Dorfen
06/1995: Dorfen (Bayern)
In Lichtenberg und später im oberbayerischen Dorfen missbrauchte der evangelische Pfarrer Rainer S. über mehrere Jahrzehnte zahlreiche Kinder und Jugendliche.
Am 27. September 1980 versammelte sich eine Gruppe von Lichtenberger Konfirmanden in der Wohnung von Frau L., der Mutter eines betroffenen Konfirmanden. Sie besprachen die Übergriffe des Pfarrers. Einen Tag nach der konspirativen Versammlung begann der Psychoterror. Ein Mädchen hatte dem Pfarrer alles verraten. Er rief die kleinen Verschwörer zu sich, verdunkelte den Raum und ließ sie einen Eid leisten, nichts nach draußen zu lassen. Frau L. erhielt einen Brief aus dem Pfarrhaus und wurde zum Pfarrer zitiert. Dieser drohte ihr, er hätte noch jeden niedergemacht, der sich ihm in den Weg stellen würde. Der Sohn hatte von Stund an keine Freunde mehr. Rainer S. schloss ihn aus allen Jugendkreisen aus. Frau L. wandte sich an den damaligen Dekan in Naila, Elias F. Sie schämte sich furchtbar, aber erzählte dem Dekan dann doch, was der Pfarrer alles mit ihrem Sohn angestellt hatte. Passiert ist daraufhin scheinbar nichts.
Tatsächlich seien dreimal Frauen zu ihm gekommen, berichtete 1995 der inzwischen pensionierte Dekan seinem Vorgesetzten, und hätten körperliche Berührungen bei Mädchen und Verletzungen der notwendigen Distanz beklagt. Der Dekan stellte Rainer S. am 21. April 1983. Der räumte einiges ein, spielte aber alles herunter. In dieser Zeit der sexuellen Freizügigkeit sei es ihm, dem älteren Dekan, schwergefallen, Grenzen zu ziehen. Und S. soll versprochen haben, sich alles zu Herzen zu nehmen, sich zurückhaltend und verantwortlich zu betragen. Der Dekan dachte, die Sache sei nun gut, und verzichtete auf einen Eintrag in die Personalakte. Danach verschwand Schulze aus der Gemeinde. Auch im oberbayerischen Neuötting, wo er anschließend seelsorgerisch tätig war, gab es Gerüchte. Anschließend übernahm er eine Pfarrstelle in Dorfen.
In Dorfen verging er sich vornehmlich an auffällig intellektuellen, gedankenvollen Jungen, fast alle Gymnasiasten. Die holte er sich nachts auf den Freizeiten. Manche schliefen bei ihm auf dem Zimmer. Zu anderen kam er ans Bett oder er ließ sich hastig hinter einem Cola-Automaten befriedigen. Er holte sie sich auch tagsüber in der Gemeinde. Beim einen rief er an, ob er allein zu Hause sei, den anderen verführte er im Keller des Pfarrhauses. Einige Jungen berichten von oralem Verkehr, alle von Masturbationen.
Anfang März 1991 wandten sich die Eltern eines betroffenen Jungen an den Vorgesetzten von Rainer S., Jürgen W. Alle Widerwärtigkeiten, denen der Sohn ausgesetzt war, hatten die Eltern als minutiöses, handschriftliches Protokoll dem Dekan W. auf den Tisch gelegt. Gemeinsam berieten sie, was zu tun sei. Sie verzichteten auf den Staatsanwalt und beschlossen, die Sache kirchenintern zu regeln. W. sagte 1995, er habe den Pfarrer gestellt, dieser räumte ein wenig Selbstbefriedigung ein, habe aber körperliche Berührungen abgestritten. So wurde, was sich im Protokoll noch wie eine schwere sexuelle Nötigung liest, zu einer relativ geringfügigen "Spielerei". Die Personalakte war sauber.
Am 6. Juli 1994 packte ein weiteres Opfer aus, ein dreizehnjähriger Junge. Eine Gegenüberstellung sollte Klarheit bringen. Der Dreizehnjährige musste ins Rektorzimmer. Dort sollte er in Gegenwart des Pfarrers seine Anschuldigung wiederholen. Der Klassenlehrer wurde beigeordnet. Der Junge schwächte seine Aussage ab. Ergebnis: kein Brief an den Dekan, keine Anzeige.
Am 23. Dezember 1994 berichtete ein Mitkonfirmand von Ralf W. von Sexspielen mit dem Pfarrer. Die Eltern von Ralf W. brachten den Fall endlich in die Öffentlichkeit.
Insgesamt machten 15 betroffene Jungen eine Aussage, die Staatsanwaltschaft ging von weiteren Fällen aus.
Pfarrer Rainer S. wurde seines Amtes enthoben. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung in der ZEIT befand er sich in psychiatrischer Behandlung.
Die ZEIT berichtete seinerzeit in einem 12-seitigen Dossier über den Fall. Heute scheint er in Vergessenheit geraten zu sein …
(Quelle: ZEIT Online vom 02.06.1995)
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1995-06-02 ZEIT "Der verlorene Hirte" |
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